Nach dem Urteil des EuGH vom 17.12.2020 in der Rechtssache C-336/19 sind Regelungen von Mitgliedstaaten zulässig, wonach auch für rituelle Schlachtungen eine Betäubung zwingend vorgegeben wird. Voraussetzung für die Betäubung ist hierbei, dass sie umkehrbar ist und nicht den Tod des Tieres herbeiführt. Danach ist die Betäubung auch bei rituellen Schlachtungen mit der Religionsfreiheit vereinbar.

Vor dem Urteil des EuGH hatte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen eine generelle Untersagung des sogenannten Schächtens durch EU-Mitgliedstaaten für unvereinbar mit der Religionsfreiheit gehalten. Die Schlussanträge des Rechtsgutachters geben regelmäßig einen Hinweis darauf, wie das Gericht entscheiden könnte; sie sind aber für die Richter nicht bindend. Schlussendlich hat der EuGH dem Tierschutz den Vorrang gegeben und die zwingende Vorgabe einer umkehrbaren Betäubung für zulässig erklärt.
Damit hat der EuGH den Entwicklungen in mehreren EU-Mitgliedstaaten sowie auch in der BRD Rechnung getragen. So besteht in der Zwischenzeit in mehreren EU-Mitgliedstaaten, Island, Lettland, Liechtenstein, Polen, Norwegen, Schweden sowie Dänemark, und beispielsweise auch in der Schweiz mittlerweile eine Betäubungspflicht auch beim rituellen Schlachten. Auch die Türkei hat im Jahr 2011 generell eine Pflicht zur Elektrokurzzeitbetäubung eingeführt. Ferner wird zumindest eine Elektrokurzzeitbetäubung auch in Deutschland seitens der jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaften inzwischen weitgehend und weiter zunehmend als religionskonform anerkannt. Hierbei wird u.a. berücksichtigt, dass die zwischenzeitlichen modernen Betäubungsmethoden zum Zeitpunkt des Verfassens der religiösen Schriften nicht bekannt waren und dass diese Betäubungsmethoden weder ein Ausbluten der Tiere verhindern noch irreversible Schäden am Tierkörper verursachen noch das Tier zum Zeitpunkt der Schlachtung tot ist.
Folglich trägt wenigstens eine Elektrokurzzeitbetäubung den Rechtsgütern Tierschutz und Religionsfreiheit angemessen Rechnung. Daher werden betäubungslose rituelle Schlachtungen inzwischen auch in Deutschland als entbehrlich angesehen u.a. nach meiner kürzlichen Veröffentlichung in der Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht – ZLR 4/2020.

Eine zu Grunde liegende Bachelorarbeit und mein Beitrag in der Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht -ZLR 4/2020- beleuchten diese Frage, ob nach dem sogenannten “Schächt-Urteil” des BVerfG aus 2002 die zwischenzeitlichen Entwicklungen eine Neubewertung der Grundrechtsgüterabwägung erfordern.
Danach erlauben die Entwicklungen seit dem Schächt-Urteil des BVerfG 2002 unter besonderer Berücksichtigung des nachfolgenden Staatsziels Tierschutz gemäß Art. 20a GG, der vorgesehenen Betäubung nach den Halal-Richtlinien des Europäischen Halal-Zertifizierungsinstituts, der Einführung der Elektrokurzzeitbetäubung in der Türkei, den Betäubungsgeboten für rituelle Schlachtungen in einer zunehmenden Anzahl von EU-Mitgliedstaaten, der genannten EuGH-Rechtsprechung aus 2019 zu den vermehrten Leiden bei betäubungslosen Schlachtungen und der geänderten gesellschaftlichen Betrachtungsweisen mit zunehmenden Tierwohlinteressen eine Neubetrachtung der Grundrechtsabwägungen. Danach trägt eine Schlachtung mit Elektrokurzzeitbetäubung im Rahmen der praktischen Konkordanz den Verfassungsgütern Tierschutz als auch Religionsfreiheit verhältnismäßig Rechnung und verhindert bei jeder einzelnen Schlachtung entsprechende vermeidbare Leiden für die betroffenen Tiere. Folglich ist zumindest eine Elektrokurzzeitbetäubung angemessen. Danach ist eine Ausnahme für rituelle Schlachtungen ohne jegliche Betäubung mit Entbluteschnitt bei vollem Bewusstsein der Tiere nicht mehr erforderlich.
Für diese Sichtweise spricht auch das Urteil des EuGH vom 17.12.2020: CURIA – Dokumente (europa.eu)